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Erziehung fordert Opfer

Trotz aller Fortschrittlichkeit des 21. Jahrhunderts hat sich der gesellschaftliche Blick auf das Zusammenleben mit Kindern seit Jahren wenig verändert; es wird zumeist als kräftezehrender Machtkampf gesehen. Darum ist es ratsam, Erziehung kritisch zu betrachten und stattdessen eine gute Beziehung zu sich selbst und anderen anzustreben. Dafür ist die Aufarbeitung unserer eigenen Geschichte notwendig. Ein Überblick aus traumatheoretischer Perspektive.

Zurück zu sich selbst

Ein Gruppentreffen in einer Münchner Psychotherapiepraxis. Die 45-jährige G. ist sichtlich bewegt von dem, was die anderen GruppenteilnehmerInnen ihr da gerade zeigen. Im Alltag hat sie Probleme damit, ihre Gefühle zu äußern. Besonders anderen ihre Meinung zu sagen, fällt ihr schwer. G. wollte herausfinden, welche ihrer inneren psychischen Strukturen bei dem Satz „Ich will meine Wut fühlen“ dominiert.

Wie alt ist der Teil in ihr, der aktiv ist, wenn sie wütend sein möchte? Was behindert ihn? Die Stellvertreterin für das Wort „Wut“ flüstert: „Ich trau mich nicht zu sprechen, wenn die mich so anschaut.“ — „Die“, damit ist die Frau gemeint, die das Wort „Will“ repräsentiert — G. hat sie bereits als einen Anteil ihrer eigenen Mutter identifiziert. Es stellt sich heraus, dass es der Klientin nicht möglich ist, sich zu wehren, weil sie von klein auf dahingehend manipuliert wurde, dies zu unterlassen. Ihre Mutter empfand ein Nein als inakzeptabel, störend, aufsässig und hat es der Tochter „aberzogen“. Diese darf — und kann — sich deshalb auch heute nicht schützen — selbst wenn ihre Grenzen überschritten werden.

Freud würde sagen, ihr Über-Ich hindert sie daran. Dass sie auf Kosten ihrer eigenen Integrität handelt, ist für den Kind-Anteil in ihr nebensächlich — zu groß ist seine Angst vor Ablehnung.

Gefühle wollen gefühlt werden

Die anderen TeilnehmerInnen haben während ihrer Prozesse ähnlich erhellende Erlebnisse. „Selbstbegegnung“ heißt diese besondere Form der Traumaaufstellung, die sich immer größerer Beliebtheit erfreut. Sie wurde vom Psychotraumatologen Professor Franz Ruppert im Zuge seiner Identitätsorientierten Psychotraumatheorie (IoPT) entwickelt.

Anders als beim klassischen Familienstellen werden nicht die Familienmitglieder durch StellvertreterInnen repräsentiert, sondern einzelne Teile der psychischen Struktur der KlientInnen. Ziel der Therapie ist es, zu klären, wo ein Problem aus dem heutigen Leben seinen Ursprung hat. Dadurch können früh verdrängte Gefühle spezifischen — alten — Erfahrungen zugeordnet, damit auch zeitlich besser eingeordnet und schließlich verarbeitet werden. Entscheidend ist auch, das eigene Opfersein anzuerkennen und sich selbst mit all seinen Gefühlen und Bedürfnissen zu akzeptieren.

Das Überlebensprogramm unserer Psyche

Alle Menschen haben mehrere innere Anteile in sich. Diese Aufspaltung hat nichts mit einer multiplen Persönlichkeit oder Ähnlichem zu tun, sondern ist ein normaler psychischer Vorgang als Reaktion auf eine unnormale Situation: Ein Erleben größter Not. Damit ist klar: Nahezu jeder Mensch ist Trauma-Opfer.

Der Auslöser liegt in der Kindheit

Die eigenen Eltern sollen ihre Kinder idealerweise so lieben, wie sie sind. Durch ihre eigenen Traumatisierungen können das viele aber nicht.

Im Kontakt zu ihren inneren Kindern, in der Selbstbegegnung, repräsentiert durch die Stellvertretenden ihres Anliegensatzes, können die KlientInnen heute für sich selbst die liebevolle Mutter oder der verständnisvolle Vater sein, die oder den sie in ihrer Kindheit nicht hatten.

Die Menschen kommen mit Problemen wie Ausbeutung im Job, der Unfähigkeit, sich aus destruktiven Beziehungen zu lösen, plötzlich auftretenden Symptomen wie Panikattacken oder Schmerzen, für die sich keine medizinische Erklärung finden lässt. Zwar sind die Anliegen unterschiedlich — doch haben sie etwas gemeinsam: Die Schwierigkeiten entstehen fast immer durch frühkindliche und oft bereits vorgeburtliche Erfahrungen. Auch das Verhältnis und die Bindungsqualität zu den primären Bezugspersonen spielen eine wichtige Rolle. Der Mutter kommt dabei besondere Bedeutung zu, weil sie die erste Person ist, mit der das Kind in Kontakt kommt, da es schließlich in ihr heranwächst.

Ein Trauma bringt uns an unsere Grenzen

Traumatisierend ist eine Erfahrung für uns dann, wenn sie uns gänzlich überfordert. Es handelt sich um eine Situation, in der wir uns hilflos erleben und es uns nicht gelingt, die Gefahr abzuwenden. Hier setzt der Überlebensmechanismus der Psyche ein — die Abspaltung der unaushaltbaren Gefühle (1).

Andere psychische Strukturen, die Überlebensanteile, arbeiten mit großer Anstrengung gegen eine Aufdeckung des Traumas an. Sie nutzen dafür verschiedenste Überlebensstrategien wie Süchte –zum Beispiel Drogen, Essen —, Ablenkung, das Aufopfern für andere et cetera. Die anhaltende Gefühlstaubheit ist besonders dann wichtig, wenn sich das Opfer weiterhin in Gefahr befindet, etwa wenn Eltern ein Kind fortlaufend traumatisieren. Es hat keine Möglichkeit, der Situation zu entkommen, ist es doch existentiell von ihnen abhängig (1). Diese Reihe aufeinanderfolgender Traumatisierungen wird als Entwicklungstrauma bezeichnet. Beim viel bekannteren Schocktrauma handelt es sich um ein einzelnes, abgeschlossenes Ereignis, wie zum Beispiel einen Raubüberfall.

Die Psyche bleibt geteilt

Die Opfer werden älter und sind in keiner permanenten Gefahr mehr ausgesetzt. Die Spaltung war früher wichtig — heute ist sie überflüssig. Doch hat sie sich als Mittel zur Lebenssicherung bewährt und wird deshalb beibehalten.

Die Abtrennung von den eigenen Gefühlen behindert das Opfer in seinem Alltag: Ein auslösender Reiz, der es an ein bedrohliches Erlebnis erinnert — Trigger genannt —, kann die traumatisierten Anteile in ihm hervorholen. Dann reagiert der Mensch in einem Kind-Anteil, der sich noch immer auf dem Entwicklungsstand zur Zeit der Traumaerfahrung befindet. Das innere Kind beantwortet die aktuelle, meist vergleichsweise harmlose Situation mit den starken Gefühlen von damals. Für die Betroffenen fühlt es sich so an, als wären sie aktuell in Lebensgefahr. Dies geschieht unbewusst und ohne dass das Opfer darauf aktiv Einfluss nehmen kann.

Die Entstehung von Urvertrauen

Ein kleines Kind ist von seinen Eltern abhängig. Ohne sie würde es verhungern; zu Urzeiten bestand noch dazu die Gefahr, dass es gefressen wird. Das Gehirn eines heutigen Babys unterscheidet sich nur unwesentlich von dem eines Steinzeitbabys, daher werden Säuglinge nicht gerne abgelegt oder alleine gelassen. Nach und nach erst macht es die Erfahrung, dass die Eltern nur in einem anderen Raum sind und nicht für immer weg, wenn sie aus seinem Blickfeld verschwinden.

Zu Beginn seines Lebens fehlt dem Säugling noch jegliches Zeitgefühl, daher ist es so wichtig, dass die kindlichen Bedürfnisse prompt beantwortet werden. So erlebt es seine Bezugspersonen als verlässlich — Urvertrauen kann sich entwickeln.

Bindungslosigkeit und leichte Formbarkeit

Im Zuge einer „erzieherischen Maßnahme“ aus dem dritten Reich wurde gerade diese Entwicklung absichtlich verhindert. Dem Kind wurde sein Weinen, mit dem es auf sich aufmerksam macht, als höchst negativ, gar manipulativ ausgelegt. Ein Erziehungstipp von vielen Müttern und Großmüttern lautet daher noch heute, nicht gleich zu reagieren, wenn das Baby weint. Die Begründung dafür lautet, dass es sonst lernen würde, dass immer jemand kommt und dass es das dann auch immer wieder einfordern würde.

Doch soll es im Idealfall ganz genau so sein: Nur durch zuverlässiges, sofortiges Reagieren der Eltern lernt das Kind, dass es sich bei ihnen sicher fühlen kann. Es manipuliert nicht, sondern sorgt für sich. Diese und zahlreiche weitere bindungsvermeidende „Verhaltensregeln“, die unter anderem im Nationalsozialismus propagiert wurden, führten dazu, dass die Angst, dass es ein Zuviel an Zuwendung geben könne, noch heute existiert.

Maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen hat der erfolgreiche Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ aus dem Jahr 1934. Er wurde von der Lungenärztin Dr. Johanna Haarer verfasst und noch bis Ende der 80er Jahre (!) verlegt. Später in entnazifizierter Fassung; dennoch wurden Eltern weiterhin zur Härte gegen Kinder angehalten. Die systematische Traumatisierung erfüllte einen klaren Zweck: Aus den früh gebrochenen Kindern sollten fügsame Soldaten gemacht werden können, die Befehle befolgen und keine Fragen stellen. Haarer schreibt etwa, die Mutter solle „das unruhige Kind in einen Raum tun und holt es erst zur nächsten Mahlzeit wieder“. Es komme nur „auf ein paar wenige Kraftproben zwischen Mutter und Kind an“ und das Kind „lernt, daß es sich fügen muß und sein Schreien nichts nützt“ (2).

Hier kann nicht die Rede von einer Einsicht des Kindes sein und dem Willen, nun zu gehorchen. Das Stoppen des Weinens ist die Reaktion eines traumatisierten Kindes. Das Baby, das, wie bereits erwähnt, kein Zeitgefühl hat, wird alleine gelassen. Es ist in höchster Panik, da sein Gehirn diese Situation mit Todesgefahr gleichsetzt. Es kann nur überleben, indem es seine Stressreaktionen und sein Verlangen nach Nähe unterdrückt. In der Folge weint es nicht mehr. Es trennt auch die Verbindung zu seinen Gefühlen wie Ängsten, Schmerzen, Wut oder Scham.

Die Täter-Opfer-Dynamik

Auch dürfen die TäterInnen vom Opfer nicht als solche wahrgenommen werden, denn es ist weiterhin auf sie angewiesen. Es idealisiert sie eher noch und nimmt sie in Schutz (1). Da den Opfern die Verdrängung nicht bewusst ist, kann es passieren, dass sie später auch zu TäterInnen werden (3). Sogenannte „Schlaflerntrainings“ — „Jedes Kind kann schlafen lernen“; „Elternschule“ — machen sich auch heute noch den Mechanismus der Spaltung zunutze: Hört das Kind auf zu weinen, wird dies den Eltern so verkauft, als hätte das Kind nun „gelernt“, alleine zu schlafen. Durch die eigenen Traumatisierungen erkennen die Eltern nicht, dass sie mit der Anwendung dieser „Programme“ zu TäterInnen an ihren Kindern werden.

Warum erziehen so viele Eltern?

Wenn von Trauma die Rede ist, denken viele an schwere Unfälle oder Naturkatastrophen. Mit Traumatisierungen durch andere Menschen — was viel häufiger vorkommt — können nur wenige etwas anfangen. Dass Eltern ihren Kindern seit Generationen frühe Verletzungen zufügen, wird kaum wahrgenommen. Nicht immer tun sie es mit Absicht, sondern vor allem, weil sie die Gefahren dabei nicht erkennen. Sie mussten sich hart machen aufgrund der eigenen Erfahrungen und können so kein Mitgefühl für ihre eigenen Kinder entwickeln.

Gewalt gilt als normal

Am Beispiel von G., die ihre Wut nicht zeigen kann, auch wenn das Gefühl berechtigt wäre, wird deutlich, wie lange die schmerzhaften Kindheitserfahrungen in uns gespeichert bleiben und unser Leben beeinflussen. Durch böse Blicke, Bestrafung oder Liebesentzug hat die Mutter der Tochter das unerwünschte Verhalten „abgewöhnt“.

Auch „Maßnahmen“ wie Beschämung, Ignorieren, körperliche und verbale Gewalt sind gängige Erziehungsmittel, die tagtäglich Anwendung finden. Doch ist dies verheerend für die Psyche der Opfer. Dieses Vorgehen stürzt die Kinder in die Katastrophe, nicht angenommen zu sein.

Der (drohende) Verlust der elterlichen Zuwendung bedeutet, wie bereits erwähnt, Lebensgefahr für das Kind — es muss einen Teil von sich aufgeben, „brav sein“ und sich anpassen, um die Traumatisierungen durchzustehen.

Elternschaft weckt eigene Kindheitserinnerungen

Eltern kommen im Kontakt mit ihren Kindern oft auch mit ihren Traumagefühlen in Berührung. Um ihre eigene alte Hilflosigkeit, Angst, Überforderung nicht fühlen zu müssen, unterdrücken sie die Gefühlsäußerungen ihrer Kinder. Die eigenen Eltern haben diese Gefühle auch schon nicht ausgehalten, und so wurden sie bereits bei ihnen unterbunden. Zahlreiche Sprüche in unserem Sprachgebrauch ermahnen Kinder zu „gefühllosem“ Verhalten — „Ein echter Mann hält das aus“, „Das hat mir auch nicht geschadet“. Häufig werden sie von der nächsten Generation zusammen mit dem traumatisierenden Erziehungsverhalten unreflektiert übernommen — die elterliche Täterschaft wird fortgesetzt.

Aus demselben Grund reagieren viele Menschen verständnislos oder sogar aggressiv auf bindungsorientiertes Begleiten, (langes) Stillen oder Schlafen im Familienbett: Sie werden dadurch schmerzlich daran erinnert, dass liebevolle Zuwendung und Geborgenheit in ihrer Kindheit fehlten. Ihre Überlebensstrategie ist es, andere Meinungen zu bekämpfen. Die Mehrheit gibt ihnen leider oft Recht, weil sie ihrerseits ihre Traumata verschleiern will. So kommen sie um eine Auseinandersetzung mit sich selbst herum.

Gesellschaftlicher Konsens

Des Weiteren wird es den Menschen von außen schwer gemacht, ihr Erziehungsverhalten zu hinterfragen und damit womöglich das eigene Opfersein aufzudecken.

Das kollektive Verdrängen wird der Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen vorgezogen. Deswegen ist es verpönt, sich verletzlich und schwach zu zeigen. Ein Indianer kennt schließlich keinen Schmerz. Leugnen, Verdrängen, Beschönigen, Herunterspielen, Nicht-Hinterfragen, Ignorieren, Ablenken et cetera sind gängige Strategien unserer traumatisierten Gesellschaft, um nicht zu fühlen, was uns in der Kindheit widerfahren ist.

Die ersten Bindungserfahrungen beeinflussen uns dauerhaft

Die Kontaktversuche eines Babys, das schreien gelassen wurde, verarmen mit der Zeit, es resigniert schließlich. Ist bereits das Bindungsmuster der Mutter „vermeidend“, prägt sie das Bindungsverhalten des Säuglings entsprechend. Bleibt ein Mensch bindungsvermeidend, wird er in seinen Beziehungen zu anderen Menschen Schwierigkeiten damit haben, Vertrauen zu fassen, Nähe zuzulassen und — auch ernst gemeinte — Liebe zu erwidern. Er hat früh gelernt, dass er sich auf Menschen nicht verlassen kann. Das heißt im Umkehrschluss: Wenn Eltern sich ihr Bindungsmuster bewusst machen und daran arbeiten, können sie es bei ihren Kindern sozusagen korrigieren.

Das Durchbrechen der Traumaspirale

Unbearbeitet leiden Menschen lebenslang unter den Folgen, von ihren Eltern nicht gesehen, nicht ernst genommen, emotional vernachlässigt worden zu sein. Die Selbstbegegnung nehmen auffallend viele ältere Menschen in Anspruch. Sie bereuen es rückblickend oft sehr, dass es bis ins hohe Alter dauerte, ehe sie sich trauten, ihre Gefühle wiederzuentdecken. Sie erahnen, wie sehr sie ihren Kindern bereits geschadet haben.

Vermutlich sind in jüngeren Jahren der Stress zu groß und die Überlebensstrategien zu zahlreich, sodass die Überlebensanteile lange Zeit die Oberhand behalten. Die Beschäftigung mit Dingen, die in unserer traumatisierten Gesellschaft genau deshalb als erstrebenswert gelten, weil sie gute Ablenkungsmöglichkeiten bieten, ist zu verlockend: Geld, Karriere, Beliebtheit. Alles unzureichende Ersatzbefriedigungen, die herhalten müssen, weil die Liebe der Eltern fehlte. Dann erst, wenn es im Alter ruhiger wird, Sozialkontakte und Arbeit wegfallen und das Verhältnis zu den Kindern schlecht ist, beginnen die Opfer, ihr Leben zu hinterfragen — sie sind buchstäblich auf sich selbst zurückgeworfen.

Unsere Chance

Die Traumatisierung hat eine mehrgenerationale Komponente, wenn Gefühle bereits bei unseren Eltern und deren Eltern nicht gefühlt wurden. Beispielsweise kann die Großmutter als Kind eingesperrt worden sein und die Enkelin plötzliche Panikattacken in engen Räumen entwickeln, die sie sich nicht erklären kann.

Die damalige Not der Großmutter wurde mitunter nie offen ausgesprochen, sie kann aber unbewusst die Traumaerfahrung weitergeben. Sie war vielleicht ein Kriegskind. Zu Zeiten von Krieg und Wiederaufbau hatten unsere Vorfahren nicht die Kapazitäten, sich mit ihren psychischen Verletzungen zu befassen. Die Menschen heute aber haben die Möglichkeit, aufmerksam zu werden, wenn sie mit „psychischen Krankheiten“, Körpersymptomen, unerklärlich starken Gefühlen oder Triggern konfrontiert sind. Sie könnten die ersten sein, die die familiäre Traumaspirale beenden — wenn sie es schaffen, sich ihren schmerzhaften Gefühlen zu stellen.

Raus aus dem Überlebensmodus

Wie kann das gehen? Wir könnten uns öfter fragen: Wie wollen wir leben? Leben, und nicht nur überleben, Sich-Fügen, Funktionieren, Leistung bringen. Wollen wir aussteigen aus dem Hamsterrad? Aus einem Job, der uns krank macht und für den wir schlecht bezahlt werden? Den wir machen, um uns in einer Woche Urlaub im Jahr von unserem restlichen Leben zu erholen? Was tun wir unserem Körper an mit Diäten oder exzessivem Sport? Wen wollen wir damit beeindrucken? Und wen mit hunderten Online-Freundschaften, Followern, Likes? Welche Leere versuchen wir damit — vergeblich — zu füllen?

Wie können wir die Zukunft für unsere Kinder gestalten? Entscheiden wir uns, sie selbst nicht-zu-erziehen? Oder geben wir sie in die Hände von Erzieherinnen und LehrerInnen, die Gewalt anwenden, um sie in unsere traumatisierte Gesellschaft einzupassen?

Vertrauen wir sie PädagogInnen an, die im Studium nicht lernen, die eigene Geschichte zu reflektieren und stattdessen womöglich unverarbeitete eigene Konflikte mit den Kindern austragen (4)? Könnten wir alternative Schulformen in Erwägung ziehen? Sollen unsere Kinder die Möglichkeit haben, sich frei zu bilden? Können sie ihren Interessen folgen und einen Beruf erlernen, der ihnen Freude macht? Oder, früher noch: Können sie behaupten, dass sie geliebt werden um ihrer selbst willen?

Wenn wir ihnen mit auf den Weg geben, dass sie so, wie sie sind, richtig sind, wenn sich Eltern gegen Manipulation, für die Reflexion ihres Verhaltens und das einfühlsame Begleiten des Kindes entscheiden, muss es nicht mühsam, etwa durch Therapien, wieder an seine Gefühle herankommen. Wenn Eltern ihm seine — und ihre eigenen — Gefühle erklären, über die eigenen Grenzen sprechen, es ernst nehmen, dann macht es die Erfahrung schon früh, dass es mit seiner individuellen Persönlichkeit geliebt wird, und kann ganz — und nicht gespalten — es selbst sein.

Eltern müssen nicht perfekt sein

Natürlich ist es nicht immer möglich, die Kinder einfach von der Schule abzumelden oder einen unliebsamen Job zu kündigen. Was wir aber tun können, ist zu erkennen, dass wir durch unsere eigene Geschichte und die traumatisierenden Strukturen unserer Gesellschaft in ein enges Korsett gepresst werden. Wenn wir unsere gesunden Bedürfnisse wahrnehmen und äußern, könnte das der Anfang eines freieren, selbstbestimmteren Lebens sein.

Sowohl bei der Selbst-Findung als auch beim Anstreben einer empathischen, gewaltfreien Elternschaft kommt es vor allem darauf an, zu erkennen, wer wir sind. Dann müssen wir uns nicht verbiegen (lassen), keine wahnwitzige Perfektion anstreben oder fremden Ansprüchen hinterherlaufen. Es ist okay, wenn wir mal laut werden oder uns eine Situation überfordert. Wichtig ist dann nur, dass wir in der elterlichen Verantwortung bleiben. Es ist hilfreich, neben unserem Kind auch unser inneres Kind und dessen Belange in den Blick zu nehmen und es nicht zu übergehen — das hatte es früher schon oft genug.

In guter Gesellschaft

Wenn wir nun denken, die Gesellschaft müsse sich ändern, damit es uns gut geht, ist das zum einen illusorisch, und gleichzeitig geben wir die Verantwortung für uns an andere ab. Damit befänden wir uns wieder in einer ähnlichen Abhängigkeit wie in der Kindheit. Wenn wir uns selbst wiederentdecken und in unseren Beziehungen zu anderen authentisch bleiben, macht uns das attraktiv für Gleichgesinnte — damit entsteht nach und nach ein Umfeld, in dem wir uns wohlfühlen (5).

Ein wertschätzendes Netzwerk — sei es nun die Möglichkeit zum Austausch online oder ein Clan vor Ort — macht Mut. Wir können uns gegenseitig auf unserem Weg zu einem authentischen Leben unterstützen, unsere eigenen Gefühle wieder fühlen und freier werden. Der Verzicht auf Erziehung ist eine großartige Chance, mit unseren Kindern über Gefühle zu sprechen. Ergreifen wir sie!

Zum Weiterlesen

Neben Prof. Franz Ruppert gibt es auch bei der Verhaltenswissenschaftlerin Dami Charf viele lesenswerte Texte zu Entwicklungstraumata. Karl Heinz Brisch, einer der führenden Bindungsforscher, hat zahlreiche gut verständliche Bücher zum Thema Bindung geschrieben.